GazakriegDie Flucht aus Rafah hat begonnen

Gazakrieg / Die Flucht aus Rafah hat begonnen
Mit Sack und Pack nur weg aus Rafah Foto: AFP

Eine Frage ist in Rafah immer wieder zu hören, seit die ersten Flugblätter der israelischen Armee heruntergeregnet sind: „Wo sollen wir hin?“ Rund 1,4 Millionen Menschen haben nach UN-Schätzungen hier, im äußersten Süden des Gazastreifens, Zuflucht gefunden – nach Monaten des Kriegs zwischen Israel und der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas.

Zugespitzt hat sich die Lage für die Menschen in Rafah seit Sonntag: Erst beschießt der bewaffnete Arm der Hamas, die Essedin-al-Kassam-Brigaden, den Grenzübergang Kerem Schalom, am Übergang des westlichen Teils des Gazastreifens nach Israel. Vier israelische Soldaten sterben.

Die israelische Armee verortet die Herkunft der Geschosse in Rafah, wo sich ihr zufolge die letzten verbliebenen Hamas-Bataillone aufhalten. Daraufhin bombardiert sie mehrere Ziele in Rafah. Mitarbeiter von Krankenhäusern in der Stadt sprechen von Dutzenden Toten.

Am Montagmorgen, nach einer immer wieder von israelischem Beschuss unterbrochenen Nacht, haben die Menschen im Osten von Rafah über die Flugblätter und über Nachrichten auf ihren Handys von den Plänen erfahren. Auf den Zetteln steht: „Die israelische Armee bereitet sich auf ein hartes Vorgehen gegen Terrororganisationen vor.“

Jeder, der vor Ort bleibe, gefährde „sein Leben und das seiner Familie“. Dann die Anweisung: „Zu Ihrer Sicherheit fordert die israelische Armee Sie auf, das Gebiet sofort zu räumen.“ Die Menschen sollen in die „erweiterte humanitäre Zone“ in al-Mawasi fliehen, etwa zehn Kilometer von Rafah entfernt.

Mohammed al-Nadschar, ein 23-jähriger Jurist, fasst die Reaktion vieler Menschen so zusammen: „Wir sind mit der Nachricht aufgewacht, auf die wir die ganze Zeit gewartet haben: die Evakuierung der östlichen Gebiete von Rafah vor der Invasion durch die israelische Armee.“ Jetzt wisse jedoch niemand, wohin.

„Der Gazastreifen ist so verwüstet, dass es keine Orte mehr gibt, an denen sie leben können“, sagt er über die Menschen in dem Palästinensergebiet. Sie seien „durcheinander“. „Sollen sie bleiben? Sollen sie in die Gebiete gehen, die von der Armee als sicher beschrieben werden?“, fragt al-Nadschar. Niemand vertraue der israelischen Armee. Es gebe „keine sicheren Gebiete im Gazastreifen“.

Und doch ziehen sie los. Am Montagmorgen sieht ein AFP-Fotograf, wie Bewohner sich auf den Weg machen aus dem Osten Rafahs. Manche haben ihr Hab und Gut auf das Dach eines Taxis gepackt, andere auf Lastwagen, manche auf einen Eselskarren. Es regnet in Strömen. Viele Zelte, in denen Vertriebene sich niedergelassen haben, stehen unter Wasser.

Abdelrahman Abu Dschasar glaubt, dass er mit seiner Familie keinen Platz finden wird an den Orten, an die die israelische Armee die Menschen nun verweist. Diese seien „mit Vertriebenen überfüllt“, es gebe dort „nicht genug Platz, um Zelte aufzustellen“ und „keine Schulen, um uns aufzunehmen“. Die Frau seines Onkels werde in einem Krankenhaus in einer Evakuierungszone wegen eines Nierenleidens behandelt, „Wohin sollen wir gehen?“, fragt auch Abu Dschasar.

„Klima des Terrors und der Panik“

Laut israelischer Armee handelt es sich nicht um eine „groß angelegte Evakuierung“. In Rafah aber fürchten viele trotzdem, dass es jetzt losgeht: mit der Großoffensive, von der die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seit Monaten spricht – und von der ein großer Teil der internationalen Gemeinschaft das Kabinett abzuhalten versucht.

Am Dienstagmorgen rückt die israelische Armee in einem wichtigen Teil von Rafah ein: Panzer rollen vor den Grenzübergang, der den Süden des Gazastreifens mit Ägypten verbindet. Die israelische Armee erklärt, sie habe die „operative Kontrolle“ über die palästinensische Seite des Übergangs übernommen. Der Einsatz sei „sehr begrenzt“ und richte sich gegen „sehr spezifische Ziele“.

Am Abend zuvor hat Osama al-Kahlut, Mitarbeiter der Hilfsorganisation Roter Halbmond, erklärt, die Evakuierung der von der israelischen Armee als Angriffsgebiet ausgewiesenen Viertel habe begonnen. Etwa 250.000 Menschen lebten dort in etwa. Die Luftangriffe über Nacht hätten ein „Klima des Terrors und der Panik“ geschaffen, die Evakuierungsaufrufe der Streitkräfte hätten dies verstärkt.

Der 40-jährige Hanah Saleh ist entschlossen, den Osten Rafahs mit seinen Kindern zu verlassen, trotz der Schwierigkeiten, trotz der Ungewissheit. „Wir werden in die Gegend westlich von Rafah gehen“, sagt er. Eigentlich kommt er aus dem Norden des Gazastreifens, er ist von dort aus nach Kriegsbeginn aufgebrochen. Wohin es jetzt genau gehe, das wüssten er und seine Familie nicht. „Jeder stellt sich diese Frage“, sagt er. (AFP)