GeorgienMassenproteste gegen Agentengesetz der Regierung in Tiflis

Georgien / Massenproteste gegen Agentengesetz der Regierung in Tiflis
Viele junge Menschen demonstrieren in Georgien, es geht um ihre Zukunft Foto: AFP/Giorgi Arjevanidze

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im Dezember bekam Georgien den Kandidatenstatus verliehen. Vier von fünf Georgiern wollen den Beitritt zur EU. Doch die Regierungspartei ist auf Putins Kurs, verbreitet Verschwörungserzählungen und will ein Agentengesetz nach Moskauer Vorbild. Ein Land in Aufruhr.

Montag der polarisierende Auftritt der Regierungsanhänger, Dienstag und Mittwoch die brutal niedergeknüppelten Proteste Zehntausender Demokratie- und EU-Anhänger, und angesichts der Entschlossenheit, ein Gesetz gegen Nichtregierungsorganisationen im Kreml-Stil durchzuboxen, nehmen die Massendemonstrationen in Georgien weiter zu. Brüssel zeigt sich über die Ausschreitungen und den Regierungskurs in Tiflis zunehmend besorgt. „Statt in Moskau nach Inspirationen zu suchen, sollte sich die Regierung an europäischen Werten orientieren“, sagt die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, Katarina Barley, dem Tageblatt. Der Grünen-Abgeordnete Sergey Lagodinsky will Sanktionen gegen Personen in Georgien nicht mehr ausschließen.

Der aussichtsreichste Kandidat als Ziel eines solchen EU-Vorgehens heißt Bidsina Iwanischwili, hat seine Milliarden in den 1990er Jahren in Russland gemacht, war Regierungschef in Tiflis und gilt als der größte Strippenzieher in der georgischen Regierungspartei Georgischer Traum, deren Gründer und Ehrenvorsitzender er ist. „Der steht hinter diesen Dingen und bestimmt die Tagesordnung“, sagt EVP-Außenexperte Michael Gahler. Anfang der Woche brachte er rund 100.000 Regierungsanhänger auf die Beine und versprach, unter der Führung seiner Partei werde Georgien 2030 EU-Mitglied sein, so wie es als Ziel in der Verfassung verankert ist und nach wie vor von 80 Prozent der Bevölkerung unterstützt wird.

Doch alles andere sprach gegen ein Festhalten an der Westorientierung des Landes. Iwanischwili sagte nach Medienberichten den Oppositionsparteien den Kampf an, deutete radikaleres Vorgehen nach den Wahlen im Herbst an und verbreitete Gedankengespinste Wladimir Putins. Eine westliche „Kriegspartei“ wolle über EU und NATO gegen Russland vorgehen, habe die Ukraine in die schwierige Lage gebracht und wolle Georgien von außen gesteuert in einen Krieg gegen Russland treiben. Deshalb habe seine Partei das Gesetz auf den Weg gebracht, nach dem sich alle zivilgesellschaftlichen Organisationen, die mindestens 20 Prozent ihres Budgets mit Mitteln aus dem Ausland bestreiten, als „Träger der Interessen einer fremden Macht“ registrieren lassen müssen. Es ähnelt damit dem russischen Gesetz über „ausländische Agenten“.

Massive Gewalt

Für die EU-Kommission steht fest, dass dieses Vorhaben „nicht vereinbar ist mit den europäischen Normen und Werten“, wie Kommissar Janez Lenarcic feststellte. Es würde die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen, die Medien- und die Meinungsfreiheit einschränken. „Ich fordere die Politiker in Georgien dringend auf, diesen Gesetzentwurf zurückzuziehen“, so Lenarcic. Angesichts von Massenprotesten hatte die georgische Regierung dies bei einem ersten Anlauf im vergangenen Jahr auch getan. Doch den neuen Versuch will sie nun entschlossen durchziehen. Am Mittwoch absolvierte sie bereits die zweite von drei notwendigen Lesungen

Nach den aufpeitschenden Worten von Iwanischwili versuchten Zehntausende von Gegnern des Gesetzes, ab Dienstag das Bild auf den Straßen zu bestimmen. In den Netzwerken war daraufhin zu sehen, wie Polizisten mit massiver Gewalt auf friedlich zusammenstehende Demonstranten einprügelten, den Vorsitzenden der Partei Vereinte Nationalbewegung, Lewan Chabeischwili schwer verletzten. Die westlich orientierte georgische Präsidentin Salome Surabischwili verurteilte die Polizeigewalt gegen junge und friedliche Demonstranten, diese sei „unberechtigt, unprovoziert und vollkommen unverhältnismäßig“ gewesen. Bei einer Rede vor der georgischen Armee kritisierte sie den Auftritt Iwanischwilis scharf und bezeichnete seine Behauptungen über eine westliche Kriegspartei als „große Lüge“. Ministerpräsident Irakli Kobachidse warf ihr daraufhin „Hochverrat“ vor.

Abkehr in Richtung Kreml

In Brüssel griff die S&D-Abgeordnete Barley die Bilder der Massendemonstrationen auf: „Es ist kein Zufall, dass inmitten der Proteste immer und immer wieder die Europaflagge auftaucht. Die Sterne auf blauem Grund stehen nicht nur für die Einheit Europas, sondern auch für die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Demokratie“, unterstrich Barley. Sie riet der Regierung in Tiflis, sich davon eine Scheibe abzuschneiden. Das von ihr verfolgte Gesetz sei „eines EU-Beitrittskandidaten unwürdig“.

Aus Sicht des EVP-Abgeordneten David McAllister, dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, unterstreicht die brutale Niederschlagung der legitimen Proteste gegen das Gesetz die „besorgniserregende Richtung, die die georgische Regierung in Bezug auf die demokratischen Freiheiten eingeschlagen“ hat. „Dieses Gesetz verbaut Georgiens Weg zu einer möglichen EU-Mitgliedschaft“, sagte McAllister dem Tageblatt. Er versicherte zugleich: „Wir stehen an der Seite der Menschen in Georgien und unterstützen ihre Forderungen nach Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und nach einer europäischen Zukunft.“

Auch für den Grünen-Spitzenkandidaten Sergey Lagodinsky „hat die Entscheidung der Kreml-nahen Regierung in Tiflis das Zeug, die jahrelangen Annäherungsversuche ihres Landes an die EU zunichtezumachen“. Sowohl innen- wie außenpolitisch kehre die Regierung durch das Agentengesetz den Vektor der Entscheidungen in Richtung Kreml und gegen den Westen.